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Bewusst im Leben

Online seit: 24.09.2020

Jürgen Tonezzer aus Schlanders

Jürgen Tonezzer arbeitet als Bestatter. Dieser Beruf ist selten und unentbehrlich zugleich. Wie lebt es sich, wenn man jeden Tag mit dem Tod zu tun hat?

Text: Clara Schönthaler

Jürgen setzt sich hinter das Lenkrad, schließt die Tür seines großen grauen Transporters und steckt den Schlüssel ins Zündschloss. Der Motor beginnt zu brummen, das Radio schaltet sich ein.
„Radio Tirol – des isch mein Sendr“, sagt er und grinst. Dann fährt er los, durch den Vinschgau und dann über den Reschenpass. Die Fahrt wird etwas länger dauern, etwa zwei Stunden, die heitere Musik sorgt für Ablenkung. Es geht nach Innsbruck.


Im Laderaum des Transporters, der durch eine schwarze Wand vom Fahrerraum getrennt ist, befinden sich zwei Särge. Die Verstorbenen darin sind beide um die 90 Jahre alt geworden. Jürgen wird sie nun ins Krematorium bringen.
Er weiß, dass der Tod für ihre Angehörigen eine Ausnahmesituation geschaffen hat, auch wenn sie Zeit hatten, um sich auf ihn vorzubereiten. So ist das, wenn ein Mensch verstirbt, der einem etwas bedeutet hat. Mit Menschen in dieser Ausnahmesituation hat er jeden Tag zu tun, der Umgang mit dem Tod ist für ihn allgegenwärtig – jedoch nicht alltäglich. Denn jeder Todesfall ist anders als der vorherige.
Etwa einmal in der Woche organisiert der Bestatter eine Kremation, entweder in Innsbruck oder in Bozen. Das hängt davon ab, wo die Wartezeiten kürzer sind. Ansonsten organisiert er Erdbestattungen, wäscht und bekleidet Verstorbene, berät Angehörige bei der Auswahl eines Sarges oder einer Urne und erledigt alle Formalitäten, die nach Abschluss eines Menschenlebens zu erledigen sind.
Sein Großvater, ein Tischler, hat das Bestattungsunternehmen Tonezzer im Jahre 1961 in Schlanders gegründet. Es war das erste Bestattungsunternehmen im Vinschgau. Damals waren es immer die Tischler, die neben dem Bau von Särgen auch die Aufgaben eines Bestatters übernahmen. In dem Familienbetrieb arbeiten Jürgen, sein Bruder Joachim und ihr langjähriger Mitarbeiter Roman. Auch die Eltern helfen noch mit, obwohl sie bereits pensioniert sind. Jede Hand wird gebraucht, um die Arbeit zu bewältigen.
Wer in das Büro kommt, das gleich an der Hauptstraße liegt, wird von einem großgewachsenen Mann mit rötlich-braunem Bart in schwarzem Hemd und schwarzer Hose empfangen. Die Lachfältchen um seine Augen und die tätowierte kleine Sonne neben seinem rechten Daumen deuten darauf hin, dass sich hinter der schwarzen Kleidung sehr viel Lebensfreude verbirgt. Seine ruhige Stimme vermag er wirkungsvoll einzusetzen, seine freundliche Art schafft gleich Vertrauen. Jahrelange Erfahrung hat Jürgen gelehrt, wie er mit den Angehörigen redet, die zu ihm kommen: Schon über 2.000 Verstorbene hat er bisher bestattet.

In Innsbruck schneit es. Jürgen ist beim Krematorium angekommen, er parkt gleich neben der Eingangstür des kastenförmigen, rosafarbenen Gebäudes und begrüßt freundlich die beiden Männer, die dort arbeiten. Einer hilft ihm, die beiden Särge nacheinander aus dem Transporter zu heben. Weiße Flocken lassen sich darauf nieder, ehe sie auf einem fahrbaren Gestell in das Gebäude gebracht werden. Ein Sarg wird nun in einem der beiden Öfen bei etwa 900 Grad verbrannt, der andere kommt in einen der 28 Kühlkästen, bis wieder ein Ofen frei wird.
Ein solcher Brennvorgang dauert etwa drei Stunden. Das Holz des Sarges verbrennt zuerst, dessen Asche wird abgesaugt, denn nur die Asche des verstorbenen Menschen kommt in die Urne. Übriggebliebene Metallgegenstände wie Prothesen und Schrauben werden mit einem Magneten aussortiert. Die Knochen, die zum großen Teil nicht verbrennen, werden gemahlen und ebenfalls in die Urne gefüllt. Ihr Inhalt wiegt dann ungefähr so viel wie der jeweilige Mensch bei seiner Geburt.
Damit sichergestellt werden kann, dass es keine Verwechslungen gibt, wird auf jeden Sarg eine kleine Tonscheibe mit einer Nummer gelegt, bevor er verbrannt wird. Diese Tonscheibe wird dann nach der Kremation in die Urne gegeben, ehe sie für immer verschlossen wird. So kann auch noch hunderte von Jahren nach der Bestattung festgestellt werden, um welche Person es sich handelte.
Für Jürgen ist es etwas völlig Selbstverständliches, das Krematorium zu betreten und dann wieder zu verlassen. Mit Gelassenheit und Ruhe leistet er hier seinen Dienst, der zu den Routineaufgaben in seinem Beruf gehört. Sein Vater hat ihn früher oft mitgenommen, um nicht alleine fahren zu müssen und um seinen Sohn mit der Arbeit vertraut zu machen. Es war klar, dass Jürgen und sein Bruder später das Unternehmen führen würden.
Als Jürgen 13 Jahre alt war, wurde seine Hilfe zum allerersten Mal gebraucht. Es war ausgerechnet Heiligabend, und anstatt in der Stube zu sitzen und zu feiern, fuhr sein Vater mit ihm zu einem Hof ins Martelltal, wo eine alte Frau verstorben war. Jürgen fand es spannend, zum ersten Mal helfen zu dürfen, und sein Vater wusste, dass sein Sohn der Aufgabe nun gewachsen war. Die Frau war im Kreise ihrer Familie verstorben, alle hatten sich auf ihren Tod vorbereitet, und so blieb Jürgen dieser Abend genauso friedlich in Erinnerung, wie ein Heiligabend sein sollte.
In den kommenden Jahren half er seinem Vater immer wieder, wenn der ihn gerade brauchte. Nachdem er zwei Jahre lang die Handelsoberschule in Schlanders besucht hatte, ging er dort auf die Krankenpflegeschule und machte anschließend in Meran eine Ausbildung zum Altenpfleger und Familienhelfer. Viele Jahre lang arbeitete er in Altenheimen, Krankenhäusern und beim Hauspflegedienst. Er mochte es, den Menschen zu helfen, und erinnert sich gern an diese Zeit zurück. Die größte „Gaudi“ hatte er immer im Altenheim. Der Umgang mit dem Tod gehört dort dazu, aber Jürgen konnte dazu beitragen, den Bewohnern das Leben zu erleichtern, indem er sie zum Lachen brachte.
Heute ist der 40-Jährige hauptberuflich Bestatter. Er weiß, dass sich Außenstehende schwer vorstellen können, wie es ist, wenn man mit dem Tod seinen Lebensunterhalt verdient.
Wenn er nicht das macht, was man unter der eigentlichen Arbeit eines Bestatters versteht, dann meldet er Verstorbene auf dem Standesamt ab, erteilt Pfarrern Beerdigungserlaubnisse, erstellt mit den Angehörigen Partezettel und Sterbebildchen – das alles nur, wenn ein Arzt einen Totenschein ausgestellt hat. Ein einziger Tod verursacht heutzutage Papierkram für drei Tage. Unzählige Aktenordner und ein riesiger Drucker in dem Büro im Untergeschoss weisen darauf hin.
Sein Beruf verpflichtet ihn, 24 Stunden lang erreichbar zu sein, und das 365 Tage im Jahr. Egal, ob seine Tochter Geburtstag hat, ob es Sonntag ist, drei Uhr morgens oder alles gleichzeitig – das Handy muss immer eingeschaltet sein. Ausflüge kann er nur spontan unternehmen, da er im Voraus nie sagen kann, wie viel er zu tun haben wird.
Zum Einen ist es diese ständige Erreichbarkeit, die es erschwert, den Beruf vom Privatleben zu trennen. Zum Anderen ist es die Tatsache, dass sich die Gedanken an das Erlebte nicht so schnell aus seinem Kopf verbannen lassen, wie er die schwarze Berufskleidung gegen seinen bequemen Trainingsanzug tauschen kann, wenn er abends nach Hause geht. Er muss Distanz bewahren. Nicht immer kommt der Tod nach einem langen, erfüllten Leben. Wenn Jürgen zu Unfallorten gerufen wird, braucht er oft Tage, um die Bilder in seinem Kopf zu verarbeiten. Seine Freundin Evi ist ihm eine große Hilfe. Ihr kann er von seiner Arbeit erzählen, sie hat keine Scheu zu hören, was nicht totgeschwiegen werden darf. Manchmal hilft sie ihm sogar, wenn es sehr viel zu tun gibt. Sein Beruf interessiert sie, das war für ihn eine Grundvoraussetzung für eine Beziehung.  
Beim Theaterspielen kann Jürgen alle Gedanken abschalten, die sich in seinem Kopf herumtreiben. Er liebt es, auf der Bühne zu stehen und seine Identität gegen eine andere einzutauschen. Sein Vater war am Anfang gar nicht begeistert von diesem Hobby. Sein Sohn sollte Komödien spielen? „Des konn man sich als Bestottr nit erlabm“, meinte er, „des passt ba ins uanfoch nit drzua.“ Aber die Leute hatten nie ein Problem damit. Das Theaterspielen stand der Seriosität, die für das Unternehmen Tonezzer seit jeher an erster Stelle steht, nicht im Wege.

Jürgen ist im Dorf gern gesehen, sowohl auf der Bühne als auch im Café, auch wenn er für die Leute der Totengräber ist. Denn er verstellt sich nur auf der Bühne, ansonsten ist er ganz er selbst.
Die Zeit verändert sich, so auch der Umgang mit dem Tod. Jürgen beobachtet, dass immer mehr Menschen ihren letzten Willen festlegen, und immer mehr entscheiden sich für eine Kremation. Das begründet er damit, dass sie ihren eigenen Kopf entwickeln. Was der Nachbar macht, ist nicht mehr so wichtig wie früher, auch muss etwas nicht mehr richtig sein, bloß weil es immer schon so gemacht wurde. Wer zu Jürgen in den großen Ausstellungsraum kommt, kann sich neben den klassischen Särgen aus Naturholz auch bunt bemalte Urnen in Form von Wassertropfen oder Fußbällen ansehen. In einer Vitrine liegen sogar kleine Diamanten, die aus dem verbliebenem Kohlenstoff einer Kremation hergestellt wurden und zu Schmuckstücken verarbeitet werden können. Der Wunsch nach Individualität steigt in der Bevölkerung. Für Jürgen selbst ist klar, dass er eingeäschert werden will. Da dies eine sehr umweltfreundliche Art der Bestattung ist, hofft er, dass sie sich in Zukunft etablieren wird. Ein Anstieg ist bereits zu erkennen, er bestattet etwa zehn Prozent der Verstorbenen auf diese Art. Viele Gemeinden erstatten den Angehörigen bereits einen großen Teil der Kosten dafür zurück. Sie versuchen, auf diese Weise Erdbestattungen zu vermeiden. In den Friedhöfen ist schlichtweg kein Platz mehr.
Jürgen beobachtet, dass sich auch Jugendliche immer häufiger mit dem Tod auseinandersetzen. Im Café kommt es vor, dass ihm die eine oder andere Frage gestellt wird: Was passiert mit meinem Körper? Welche Möglichkeiten gibt es überhaupt? Jürgen findet es gut, dass die Neugier auf das Thema steigt. Die Ansicht, man brauche über den Tod erst nachzudenken, wenn es so weit ist, gehört weggeschafft. Es muss darüber geredet werden. Daher freut er sich, wenn er darauf angesprochen wird. Er hält sogar Vorträge an Oberschulen. Zwar kommt es vor, dass einzelne Schülerinnen und Schüler den Raum verlassen, weil ihnen das Thema zu nahe geht. Aber dem Großteil von ihnen kann Jürgen etwas mitgeben.
Neben der steigenden Neugier der Jugend auf das Thema Tod sinkt gleichzeitig das Interesse für die Religion, die noch vor gar nicht so langer Zeit unmittelbar mit dem Tod verbunden war. Jürgen fällt häufig auf, wie wenige Jugendliche in die Kirche gehen. Das kann er durchaus verstehen, findet es aber schade. Der Glaube liegt ihm sehr am Herzen; dass es Gott gibt, steht für ihn außer Frage. Er wäre womöglich sogar Pfarrer geworden, wenn ihm dieser Beruf nicht die Gründung einer Familie verboten hätte.
Aus beruflichen Gründen ist er so oft in der Kirche, dass er jedoch lieber auf den Berg geht, wenn er einen freien Sonntag hat, anstatt zur Messe. Wenn er am Gipfel angelangt ist, setzt er sich für ein Weilchen hin, denkt nach und ist dankbar. Der fortwährende Gedanke an die Endlichkeit hat bewirkt, dass er ganz bewusst im Leben steht und es genießt. Denn irgendwie ist es doch gerade die Endlichkeit, die dem Leben seinen Sinn gibt. Obwohl das Leben das Wesentliche ist.
Er denkt über die Zukunft der Kirche nach und auch über die Zukunft des Unternehmens. Er weiß: Sie werden sich auf viel Neues einstellen müssen. Nicht nur, was die Art der Bestattungen angeht. Sie werden sich auch zunehmend mit anderen Religionen auseinandersetzen müssen. Deren verstorbene Anhänger wurden im Todesfall bis jetzt immer in ihr Heimatland zurückgebracht und dort bestattet, auch wenn sie 30 Jahre lang in Südtirol gelebt haben. Mit der hohen Zunahme an Migranten und Flüchtlingen wird sich das verändern, neue Lösungen müssen gefunden werden. Es wird eine Herausforderung werden, aber sie werden sie bewältigen.

Jürgen verabschiedet sich von den beiden Arbeitern des Krematoriums. Er tritt ins Freie, klopft sich den Schnee von seiner Kleidung und steigt in seinen Transporter. Das Radio beginnt wieder zu spielen. Während er zurück nach Hause fährt, lutscht er ein Holunderbonbon und geht den Text seiner Theaterrolle im Kopf durch. Er muss ihn zu Hause unbedingt noch einmal üben, die nächste Probe steht an. Diesmal ist es zur Abwechslung keine Komödie. Nein, zufälligerweise geht es sogar um den Tod. Um den berühmtesten Tod der Geschichte, den Tod Jesu Christi. Jürgen wird einer von 160 Darstellern sein, die in Lana die Passionsgeschichte spielen werden. Seine Rolle ist die eines Pharisäers, eines Verräters. Er freut sich auf die Aufführungen, auf die vielen neuen Erfahrungen. Es wird einmal etwas ganz Neues. Auch wenn es um den Tod geht.

„Bewusst im Leben“ ist die Reportage, die heuer mit dem Gabriel-Grüner-Schülerpreis ausgezeichnet worden ist. Der Schülerpreis wird von  ff, Agentur Zeitenspiegel, Bildungsausschuss Mals und jetzt auch dem deutschen Schulamt getragen. Die Reportage von Clara Schönthaler aus Laas (Maturantin des Sprechengymnasiums Schlanders) und Eva Maria Frank aus Prad am Stilfserjoch (ebenfalls Maturantin am Sprachengymnasium Schlanders) wurde dem Vinschgerwind vom Bildungsausschuss Mals und von ff für die Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.

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